Die internationale Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren stark verändert. Martin Leimgruber, Mitgründer von Women’s Hope International, und Geschäftsleiterin Noemi Grossen sprechen über die gesellschaftliche Stellung von Frauen, die Verantwortung des Staates und aktuelle Herausforderungen.

Martin, du und deine Frau Claudia habt vor zwanzig Jahren nach einem dreijährigen Aufenthalt im Tschad den Verein Women’s Hope gegründet. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Zenaba. Was steckt hinter dieser Geschichte?
Eines Nachts suchte Zenaba, eine junge Frau im Teenageralter, nach mehreren Tagen Wehen und bei Geburtsstillstand das Spital auf. Meine Frau Claudia wurde als Hebamme gerufen. Zenaba war in einem kritischen Gesundheitszustand. Das tote Kind konnte nur mit Mühe mit einer Saugglocke zur Welt gebracht werden. Zenaba überlebte, konnte aber die Ausscheidung ihrer Exkremente nicht mehr kontrollieren. Sie litt unter schweren geburtstraumatischen Verletzungen.

Wie ist es ihr in der Folge ergangen?
Nach wenigen Tagen musste Zenaba das Spital verlassen, um den Verwandten bei der Ernte zu helfen. In den folgenden Monaten besuchte die junge Frau Claudia oft. Zusammen sassen sie auf der Matte und tranken Tee. Wir mussten die Matte nach jedem Besuch waschen, weil sie nass war. Da realisierten wir: Frauen, die Urinpfützen hinterlassen und Gestank verbreiten, werden gesellschaftlich geächtet. Sie haben nicht nur ihr Kind und ihre Gesundheit, sondern auch ihre Würde verloren.

Betroffen von Begegnungen wie jener mit Zenaba habt ihr euch entschlossen, Frauen mit dem neu gegründeten Verein Women’s Hope die Heilung von Geburtsfisteln zu ermöglichen. Anfangs leistete der Vorstand die gesamte Arbeit im Ehrenamt. Heute arbeiten dreizehn Personen Teilzeit für Women’s Hope. Wie blickst du auf die heutige Organisation?
Ich nehme Women’s Hope als professionelle Organisation wahr, mit allen Vor- und Nachteilen. Früher war der emotionale Bezug aller, die sich für Women’s Hope eingesetzt haben, extrem stark. Bei der heutigen Grösse ist das so sicher nicht mehr möglich. Aber es ist auch klar, dass es bei der aktuellen Grösse und Komplexität bezahlte Stellen braucht.

Noemi, was ist von dieser starken intrinsischen Motivation aus der Gründungszeit heute noch spürbar?
Das wahnsinnig grosse Engagement des Vorstandes ist bis heute beeindruckend. Beim Team ist die Motivation sicher vielschichtiger. Aber auch hier: Alle leisten täglich mit viel Überzeugung Grosses.

"Die Wichtigkeit der Geburtshilfe widerspiegelt den Wert der Frauen." Martin Leimgruber, Mitgründer von Women's Hope

Interview mit Noemi Grossen und Martin Leimgruber

Martin, du sagtest mal, Geburtsfisteln hängen auch mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammen. Warum?
Die Wichtigkeit, welche die Gesellschaft und der Staat der Geburtshilfe beimessen, bringt die Stellung und den Wert der Frauen in dieser Gesellschaft zum Ausdruck. Wenn Dorfgemeinschaften zögern, bis sie Geld zusammenlegen, um einer Frau unter der Geburt einen Transport ins Spital zu ermöglichen – und wenn dort der Arzt dann sagt, er mache nur einen Kaiserschnitt, wenn er noch mehr Geld erhalte –, zeigt das, was das Leben einer Frau Wert ist.

Heute versucht Women’s Hope vermehrt, die gesellschaftliche Position von Frauen zu stärken. Wie geht ihr dies an?
Noemi: Dieses Vorhaben ist äusserst komplex und langwierig. Unsere Ansätze sind heute sicher vielfältiger, und wir können Themen von verschiedenen Seiten her angehen, unter anderem, weil wir mehr Mittel zur Verfügung haben. Wir legen beispielsweise einen grossen Fokus auf Sensibilisierungsarbeit, beziehen möglichst auch die Männer in unsere Arbeit ein und nehmen sie in die Verantwortung. Wir versuchen zudem, auf der strukturellen Ebene Änderungen zu erzielen.

Was heisst das genau?
Frauen zu operieren und Gesundheitsinstitutionen zu stärken, ist wichtig. Aber wir müssen auch andere Stakeholder adressieren. Die Regierung im Tschad hat beispielsweise auf dem Papier hehre Pläne, die Realität sieht ganz anders aus. Also suchen wir mit der Lokalregierung das Gespräch. Wir vereinbaren etwa, dass nicht nur wir etwas leisten, sondern auch der Staat etwas beiträgt. So nehmen wir ihn in die Verantwortung. In Afghanistan etwa sind Verhandlungen mit den lokalen Autoritäten momentan eminent wichtig. Nur so konnte die zumindest minime Freiheit ausbedungen werden, dass Frauen weiterhin im Gesundheitsbereich arbeiten dürfen.

Welche Rolle spielen die lokalen Partner dabei?
Die wichtigste überhaupt. Sie sind vor Ort, kennen den Kontext, können sich darin bewegen. Für die Nachhaltigkeit der Projekte sind sie unverzichtbar.

Früher sprach man von einem Hilfswerk, heute von einer Nichtregierungsorganisation in der internationalen Zusammenarbeit. Widerspiegelt diese neue Wortwahl die soeben beschriebene Haltung gegenüber den Partnern?
Absolut. In den letzten Jahren durchlief sowohl unsere Organisation als auch die internationale Zusammenarbeit an und für sich einen relativ bezeichnenden Wandel. Gleichberechtigte Partnerschaften mit starken lokalen Organisationen sind heute äusserst wichtig. Im Idealfall sind wir, die hier in der Schweiz an unseren Bürotischen sitzen, eines Tages überflüssig.
Martin: Die internationale Zusammenarbeit unterliegt einem dauernden Wandel. Was wir vor zwanzig Jahren taten, betrachten wir heute teilweise kritisch. Und was wir heute tun, werden wir in zwanzig Jahren wahrscheinlich erneut kritisch betrachten. Wichtig ist, dass wir uns laufend hinterfragen, wohlwissend, dass wir immer nach bestem Wissen und Gewissen handeln.

Vor welchen Herausforderungen steht Women's Hope gegenwärtig?
Noemi: Wir sind als eher kleine Organisation mit Afghanistan, Äthiopien und Tschad in drei relativ fragilen Ländern unterwegs. Die Ausgangslage kann sich dort schnell ändern.

Martin, was wünschst du als Gründer Women's Hope für die Zukunft?
Wir gingen seit Beginn bewusst in Länder, in denen die Not für Frauen gross ist. Ich wünsche mir, dass ihr es schafft, in diesen fragilen Kontexten weiterhin gute Arbeit zu leisten. Und dass es euch gelingt, dort zusammen mit den Partnern substanzielle Verbesserungen für die Mädchen, Frauen und die ganze Gesellschaft zu erreichen.



Titelbild: Gemeindebefragung im Tschad; Foto: Salomon Djekorgee Dainyoo/WHI/Fairpicture

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Wie alles begann:

Wie alles begann - die Geschichte von Women's Hope

Eine Hebamme und ein Arzt im Einsatz im Tschad

Martin und Claudia Leimgruber gründeten Women’s Hope International im Jahr 2003, nach einem dreijährigen Aufenthalt im Tschad. Die Begegnung mit Zenaba hatte einen prägenden Einfluss.