Die Talibanherrschaft wirkt sich auf die Programmarbeit von Women’s Hope und den Partnerorganisationen in Afghanistan aus. Die Herausforderungen sind gross – doch die Erfolge im Kleinen für die Frauen im Land umso wichtiger.

"Die Taliban können die Power der afghanischen Frauen nicht stoppen." Parisa H., ehemalige Direktorin unserer afghanischen Partnerorganisation Women’s Hope Social Association WHSA, findet klare Worte. Ihre Hoffnung schöpft sie aus Erzählungen der Frauen aus den Selbsthilfegruppen, die die 24-Jährige früher im Inland verantwortete, heute aus dem Exil.

"Die Taliban können die Power der afghanischen Frauen nicht stoppen. Die Frauen sagen: Wir haben unser Potenzial erkannt, wir fühlen uns stark – und wir sind nicht bereit, all dies aufzugeben."
Parisa H., ehemalige Direktorin WHSA

So ermutigend die Einschätzung von Parisa H. klingt, so herausfordernd ist die Situation für die Frauen in Afghanistan. Die Taliban haben die Rechte der Frauen seit der Machtübernahme vor gut zwei Jahren massiv eingeschränkt (siehe Timeline rechts). Davor trafen sich Frauen wöchentlich in rund zweihundert Selbsthilfegruppen, deren Aufbau und Koordination Women’s Hope International ab 2021 finanzierte.

Vertrauensaufbau und gegenseitige Stärkung

Der Ansatz der Selbsthilfegruppen wurde bereits über Jahre hinweg von einer niederländischen Organisation erprobt und kontinuierlich verbessert und stellte sich als sehr effektiv heraus. Als die Organisation sich zurückzog, gründete Parisa H. kurzerhand WHSA und holte Women’s Hope International ins Boot. Das Ziel der Gruppen: Sie sollen ein Umfeld des Vertrauens und der Zusammenarbeit zwischen den Frauen schaffen. Durch den Austausch von Ideen und Erfahrungen können die Mitglieder bestehende kulturelle Gewohnheiten reflektieren und gemeinsam Lösungen entwickeln. Gleichzeitig sollen die teilnehmenden Frauen ihre Potenziale erkennen, indem sie etwa neue Fähigkeiten erlernen und ein kleines Unternehmen gründen.

Selbsthilfegruppe Afghanistan

Frauen tauschen sich in einer Selbsthilfegruppe über das Thema Kinderheirat aus.

Projekteinstellung? Ohne uns!
Parisa H. war als Direktorin einer Organisation, die sich die Stärkung der Frauen auf die Fahne geschrieben hat, nach dem Sturz der ehemaligen Regierung in Gefahr und musste ihr Land verlassen, ebenso ihre Familie. Um sicherzustellen, dass niemand gefährdet wird, haben Women’s Hope und WHSA im Sommer 2021 entschieden, das Projekt kurzfristig einzustellen. Nicht so die Frauen vor Ort: Sie führten die Aktivitäten niederschwellig weiter. Motiviert vom Mut dieser Frauen, haben Women’s Hope und WHSA 2023 beschlossen, das Projekt wieder aufzunehmen. Die Frauen treffen sich aktuell in rund hundert Gruppen. "In der Zwischenzeit diskutierten die Frauen primär ökonomische Themen, weil es für sie immer schwieriger wird, ihre Familien zu ernähren. Heute bringen wir bewusst auch wieder soziale Themen ein", sagt Parisa H.. Women’s Hope entlöhnt die Initiatorinnen wieder, die die Gruppen während etwa eines halben Jahres begleiten und sich danach langsam zurückziehen. Die Entlöhnung erhöht die Stabilität der Gruppen. Die Wiederaufnahme des Projekts bedingte einige Anpassungen: Die afghanische Organisation WHSA muss neuerdings von einem Mann repräsentiert werden. Um die Mitglieder der Gruppen nicht zu gefährden, geben die Gruppenverantwortlichen alle sensiblen Informationen nur mündlich weiter; auch auf Piktogramme wird bewusst verzichtet oder sie werden nach Gebrauch vernichtet.

Raum des Friedens und der Hoffnung
"Solange alles unter dem Deckmantel der wirtschaftlichen Förderung der Frauen geschieht, haben die Taliban keine Probleme mit den Selbsthilfegruppen – sofern die Frauen unter sich bleibe", beantwortet Parisa H. die Frage nach der Reaktion der Taliban auf die Treffen. Das heisst: Gegen aussen geht es in den Treffen primär darum, die Frauen darin zu stärken, Geld nach Hause zu bringen. Tatsächlich lernen sie in den Gruppen, wie sie ihr eigenes Business aufziehen und vermarkten können. Erfahrungen zeigen: Wenn Frauen zum Familieneinkommen beitragen, gewinnen sie innerhalb ihrer Familie an Respekt und Status und können somit eine aktivere Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Doch das Vermittelte geht weit über das Ökonomische hinaus. "Wenn eine Frau etwa erzählt, was die Verheiratung ihrer 16-jährigen Tochter für diese bedeutet hat, ist das extrem wertvoll", so Parisa H.. Viele Frauen würden sich heute entschieden gegen ihre Ehemänner und vor ihre jungen Töchter stellen, da sie sich der negativen Konsequenzen von Kinderheiraten bewusst seien. In anderen Gruppen lehren Frauen anderen Frauen rechnen und schreiben. Diese wiederum geben das Wissen und die neu erlernten Fähigkeiten an ihre Töchter weiter, die die Schulen teilweise nicht mehr besuchen dürften, sagt Parisa H.

"Die wichtigste Ressource der Frauen in diesen dunklen Zeiten sind sie selbst: Sie unterstützen einander und schaffen einen kleinen Raum des Friedens und der Hoffnung ."
Parisa H.

Hebammen: Verfügbarkeit erhöht
In der Provinz Laghman im Osten Afghanistans verantwortet Women’s Hope zusammen mit der Partnerorganisation Première Urgence Internationale PUI ein zweites Projekt. In Laghman sind die Menschen aus abgelegenen Dörfern weitgehend abgeschnitten von der aufgrund jahrelanger Konflikte geschwächten Gesundheitsversorgung. Seit Projektstart im Jahr 2021 haben Women’s Hope und PUI deshalb in die Aus- und Weiterbildung von Hebammen und weiterem Gesundheitspersonal investiert und die Gesundheitseinrichtungen beim Ausbau ihrer Infrastruktur unterstützt. Mittlerweile können Hebammen beispielsweise mit ihren Familien in einem extra dafür gebauten Haus direkt neben einem Gesundheitszentrum wohnen, was deren Verfügbarkeit auch in der Nacht erhöht. Im ersten Halbjahr 2023 brachten 294 Frauen ihre Kinder in einer durch Women’s Hope unterstützten Gesundheitseinrichtung zur Welt.

Verhandlungen mit den Taliban
Die De-facto-Regierung der Taliban hat die Projektarbeit allerdings auch hier unberechenbarer gemacht. Ende 2022 verbot sie allen Mitarbeiterinnen von NGOs die Arbeit; im Januar liessen die Taliban die Arbeit von Frauen im Gesundheitssektor aufgrund des Drucks von verschiedenen Seiten wieder zu. Da Frauen nur von Frauen behandelt werden dürfen, war dies eine essenzielle Entscheidung für deren Gesundheit. Im Sommer des aktuellen Jahres hat das Gesundheitsministerium der De-facto-Regierung alle Projekte von PUI ohne Vorankündigung suspendiert. Die Gründe blieben diffus, PUI konnte mit den Behörden die schrittweise Wiederaufnahme verhandeln. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, dass Gespräche mit den Taliban möglich sind und erlassene Vorschriften nicht immer zwingend durchgesetzt werden; auch, weil die Taliban sich intern nicht immer einig sind.

Gesundheitseinrichtung Afghanistan

Hebammenunterkunft in Islam Abad, Afghanistan.

Vorschriften generieren doppelte Transportkosten
"Wegen der Abwesenheit meines Mannes, der beruflich verreist war, habe ich nachts zu Hause entbunden. Es war niemand da, der mich in die Klinik bringen konnte." Die Aussage einer Afghanin aus der Projektregion zeigt ein weiteres Problem, das sich für die Frauen seit der Machtübernahme der Taliban vermehrt stellt. Da sie nur noch mit einem männlichen Begleiter das Haus verlassen sollten, wird die sowieso schon teure Reise in ein Gesundheitszentrum für sie noch unerschwinglicher. Women’s Hope und PUI haben daher beschlossen, neben den Transportkosten für die Frauen neu auch jene der Männer zu übernehmen. Vertreter der Taliban versuchten zudem durchzusetzen, dass die Gesundheitszentren nur noch Frauen behandeln, welche mit einer männlichen Begleitperson erscheinen. Das Projektteam suchte das Gespräch mit den Taliban, um solche Einmischungen einzugrenzen und den eigenen humanitären Prinzipien treu bleiben zu können. Mit Erfolg: Frauen, die ohne Begleitung in die Gesundheitszentren kommen, werden weiterhin ohne Einschränkungen empfangen und behandelt.

Männer ins Boot holen
Eine weitere Zugangsbarriere zu Gesundheitsdiensten ist die männliche Kontrolle über weibliche Familienmitglieder. 14 Prozent der Frauen gaben in Befragungen durch PUI an, ihre männlichen Verwandten würden ihnen die Geburt in einem Gesundheitszentrum nicht erlauben. Umso wichtiger ist es, dass das Projektteam die Menschen in den Dörfern über die Wichtigkeit der begleiteten Geburtshilfe und die bestehenden Angebote informiert. Dass die Arbeit ihre Wirkung tut – wenn auch langsam –, zeigt das Beispiel einer Frau aus dem Projektgebiet: Sie hatte zweimal bei einer Hausgeburt ihr Kind verloren. Ihre Familie erlaubte ihr bei der erneuten Schwangerschaft den Gang ins Gesundheitszentrum erst, nachdem das Projektteam das Dorf besucht hatte. Die Frau suchte fortan mehrmals in Begleitung ihres Mannes das Gesundheitszentrum auf und konnte ihr Kind dort schliesslich unter sicheren Umständen zur Welt bringen.



Titelbild: Gesundheitsdienstleistungen sind nur von Frau zu Frau erlaubt. Weibliche Mitarbeitende sind daher für das afghanische Gesundheitssystem unverzichtbar; Foto: Roya Heydari/Première Urgence Internationale

Frauenrechte in Afghanistan - Rückschritt um zwanzig Jahre

Mädchen Afghanistan

1996 -2001
Erste Talibanherrschaft: Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben und massive Unterdrückung: Arbeitsverbot, Schulverbot für Mädchen, Frauen dürfen nur voll verschleiert und in männlicher Begleitung das Haus verlassen.

2001
Ende der Talibanherrschaft, Ministerium für Frauenangelegenheiten wird gegründet; Frauen erkämpfen sich ihre Rechte schrittweise zurück. Mädchen dürfen zur Schule gehen, Frauen dürfen studieren und einen Beruf ausüben.

2004
Gleichstellung wird in der afghanischen Verfassung verankert. Der Artikel 22 garantiert Frauen das Recht auf Bildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung und politische Teilhabe.

August 2021
Die Taliban übernehmen erneut die Macht und beteuern anfänglich, dass Frauen im Land weiterhin umfassende Rechte zustehen würden. Sie installieren jedoch ein "Sittenministerium" und schaffen das Ministerium für Frauenangelegenheiten ab. Ab diesem Zeitpunkt erfolgt eine fortlaufende Einschränkung der Frauenrechte.

Ende September 2021
Die Taliban verbieten Mädchen ab 12 Jahren, an die Schulen zurückzukehren. Aktuell besuchen 80 Prozent der afghanischen Mädchen und jungen Frauen im schulpflichtigen Alter (2,5 Millionen Mädchen) keine Schule.

Dezember 2022
Frauen werden von Hochschulen ausgeschlossen.

Ende Dezember 2022
Die Taliban verbieten NGO-Mitarbeiterinnen die Arbeit.

Januar 2023
Aufgrund von Druck von verschiedenen Seiten ist es Frauen wieder erlaubt, für nationale und internationale NGOs zu arbeiten – allerdings nur im Gesundheitssektor.

Filmevent 'A Thousand Girls Like Me'

Filmevent 'A thousand Girls like me'

Im Rahmen der Kampagne '16 Tage gegen Gewalt an Frauen' zeigen wir den FIlm 'A Thousand Girls like Me' der afghanischen Regisseurin Sahra Mani. Anschliessend zum Film findet ein Gespräch zur Situation gewaltbetroffener Frauen in Afghanistan statt.